
"Können Bäume träumen?
Für
das Bauprojekt Stuttgart 21 müssen im Schlossgarten uralte Platanen und
Kastanien fallen. Obwohl es auf der Welt genügend Bäume gibt, stehen
sie nirgends richtiger als hier: Das Herz der Stadt braucht sie. Ein
Gastbeitrag
Er
ist, wenn man so will, ein Fachmann für das komplexe Innenleben von
Bäumen: In seinem jüngsten Buch, „Die Haischwimmerin“, verleiht der
durch philosophisch-fantastische Kriminal- und Gesellschaftsromane
bekannt gewordene Heinrich Steinfest einem Baum sogar die wunderbare
Gabe, mit Menschen zu reden. Für die StZ hat sich der in Stuttgart
lebende, mit vielen Preisen ausgezeichnete Autor nun Gedanken gemacht
über Bäume im Allgemeinen und jene, die im Schlossgarten dem Bau des
Tiefbahnhofs weichen sollen, im Besonderen.
Im
Zug, aus dem Fenster schauend, von Wien heim nach Stuttgart kehrend,
vorbei an waldreichen Gegenden, drängt sich mir der Gedanke auf:
,,Eigentlich gibt es doch schon genug Bäume auf der Welt, oder?“
Es
gibt viel mehr Bäume als Gemälde, viel mehr Bäume als Bürgermeister, ja
sogar mehr Bäume als Automobile, deren Dominanz von den Baumliebhabern
so gerne breitgetreten wird. Stimmt natürlich, die Präsenz der Bäume ist
eine gott- und naturgewollte und ganz sicher nicht das, was der
Schriftsteller Arthur Koestler einst dem Menschen zugedachte, nämlich
ein „Irrläufer der Evolution“ zu sein. Ohne Baum wäre die Welt nun mal
eine trostlos öde Angelegenheit und das Luftverhältnis eher bedauerlich.
Siehe Mond. Ohne den Menschen hingegen nicht.
Aber
der Mensch hat auch seine guten Seiten. Zum Beispiel die Fähigkeit,
Gemälde zu schaffen. Vor allem jedoch die Gabe des Mitgefühls. Mitgefühl
für Kreaturen, wenigstens dann, wenn sie ansatzweise das Kindchenschema
erfüllen. Nur: sind Bäume Kreaturen? Verdienen sie unser Mitgefühl?
Mehr Mitgefühl als Kräne oder Zahnbürsten, die uns ja ebenfalls Vorteile
verschaffen, keine gute Luft zwar, aber gute Gebäude, wenigstens
manchmal, und einen guten Atem, meistens?
Freilich,
das Mitgefühl steht oft nahe der Sentimentalität, der romantischen
Phrase oder gar der Propaganda: etwa der Besuch der schwer verletzten
Soldaten, um deren Überleben wir beten, nachdem wir sie mit tausend
Lügen in den Krieg geschickt haben. Wir streichen so gerne über
Kinderköpfe, während wir die Kindheit abschaffen. Und im Herzen sind
wir alle Vegetarier, nur im Magen nicht.
Was
bei alldem auf der Strecke bleibt, ist die Würde. Wäre ich ein Baum,
würde ich sagen: Wenn ihr mich töten wollt, tut es, aber gebt nicht vor,
dass dies unausweichlich ist und einer besseren Zukunft geschuldet –
und gebt nicht vor, mich operieren zu wollen. Die geplante oder auch nur
behauptete Baumversetzerei der im Bauweg stehenden Schlossgartenbäume
ist Ausdruck eines Zynismus. Der gleiche Zynismus, der sich daraus
ergibt, ein Land zu bombardieren, in dem man nachher Krankenhäuser baut.
Das ist unser Problem: wir wollen nicht vollends böse sein.
Dieses
Dilemma gilt in gleichem Maße für den Bonatz-Bau. Die Vorderfront des
Stuttgarter Bahnhofs stehen zu lassen – also allein den Kopf, ohne Hirn
allerdings, ohne Bewusstsein, lobotomiert – konterkariert nicht nur die
Würde des zu zerstörenden Gebäudes, sondern auch die Würde der
Zerstörer. Wenn das denn so ein hässlicher Nazibau ist und nicht ein
bedeutsames Meisterwerk der frühen Moderne, als das die Wissenschaft ihn
ansieht – dann bitte weg mit dem ganzen Kasten. Denn es ist respektlos,
einem Korpus die Gliedmaßen abzutrennen, den Rumpf auszuweiden, ihn
seiner Bestimmung und damit seiner Ehre zu berauben und sodann seinen
Leichnam nicht mal zu begraben.
Und:
was soll dieser geplante Fassadismus eigentlich darstellen? Eine
Warnung für andere Bahnhöfe? Eine Warnung für jegliche Architektur von
Bedeutung, sich in Stuttgart je wieder niederzulassen? Eine Warnung, wie
schädlich es sein kann, trotz massiver Vernachlässigung bestens zu
funktionieren? Eine Warnung gleich diesen Köpfen, die man auf Pfähle
spießt?
Aber
zurück zu den Bäumen. Ob man sie nun für Kreaturen hält oder nicht,
ihnen das Fehlen eines Kindchenschemas verzeiht oder nicht, ob man sie
allgemein für überschätzt hält oder nicht – man muss wohl sagen, dass
sie ausgerechnet an dieser einen Parkstelle am Bahnhof vollkommen
richtig stehen. Richtiger, weil nötiger, können sie gar nicht stehen.
Wir können sie woanders in der Stadt nicht brauchen. Schon gar nicht in
dem halbtoten Zustand, in dem sie dann sein werden, wenn man sie
ausgerissen hat. Nein, entweder lässt man sie am Leben oder macht ihnen,
wie in den finsteren Zeiten der S-21-Projektplanung vorgesehen, den
Garaus.
Kinder fragen gerne: Wenn jemand tot ist, träumt er dann? Und: Träumen eigentlich auch Bäume?
Ihre
funktionalistische Art, ihre ganz und gar vernunftorientierte
Zweckmäßigkeit – und nie haben wir darüber mehr erfahren als in der
Bildungsbürgermusterstadt Stuttgart – lässt eher vermuten, es handle
sich um rigoros mathematische Köpfe. Im Gegensatz zu Topfpflanzen, die,
nahe dem Menschen lebend, ihm mit der Zeit ähnlich werden:
schwärmerisch, barock, schwermütig, übermütig, geschwätzig, suizidal.
Topfpflanzen haben Meinungen und sind deshalb in jede Richtung
manipulierbar, Park- und Waldbäume hingegen scheinen allein den Fakten
verpflichtet zu sein. Sie sind nüchterne Charaktere. Nüchterner noch als
jene Ingenieure, die traumwandelnd zwischen Risiken und Restrisiken und
entstressten Machbarkeiten balancieren und manchmal nicht mehr wissen,
wo oben und unten ist und ob der Geist in der Maschine ein göttliches
Geschenk darstellt oder eher einen Dämon.
Und
genau diese baumhafte Nüchternheit könnte uns als Vorbild dienen. So
barock wie wir Menschen sind, wäre es womöglich hilfreich, unser Ohr dem
vernünftigen Klang der „im Wind sich biegenden Gewächse“ zu leihen,
statt von einer Zukunft zu träumen, die sich so wenig wird umsetzen
lassen wie funktionierende Rettungsschirme ohne Reißleine oder
gigantische Kolonien auf einem baumlosen Mond.
Sicher, es gibt auf der Welt viel zu viele Bäume. Sie sind herrschaftlich, perfekt, elitär und – in der Mehrheit. Teufel auch!
Im
Grunde ist es ein Spiel. Die Welt ist immer ein Spiel, selbst in ihren
grausamsten Momenten: Wir haben die Mächtigen, die Ohnmächtigen und die
Gleichgültigen. Die Gleichgültigen spielen nicht mit. Die Ohnmächtigen
versuchen es hin und wieder, was den Mächtigen durchaus Freude bereitet,
weil sich das Spiel zwar alleine besser spielen lässt, dabei aber
langweilig wird. Das Aufbegehren der Ohnmächtigen zwingt die Mächtigen,
nicht nur in die Trickkiste zu greifen, sondern vollkommen neue Tricks
zu entwickeln. Das ist dann ihr Fortschritt, ihre politische
Entwicklung.
Die Ohnmächtigen glauben an die Wahrheit. Das ist ihr romantischer Zug. Manche werden dabei verrückt. Manche werden religiös.
Nun,
der Komet wird auf Stuttgart stürzen und ein gewaltiges Loch
hinterlassen. Tausende Jahre später, wenn die Erinnerung längst
verblasst ist, wird man sich fragen, warum der Krater im Zentrum der
Stadt die merkwürdige Form einer gestreckten Badewanne besitzt.
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© 2012 Stuttgarter Zeitung"